Das Requiem Auream ist ein Requiem für unsere Zeit – ein Werk über Licht und Dunkel, über Gericht und Gnade, über die Kraft des Todes und die Verwandlung des Lebens. Es ist gebaut wie ein Kreuz aus Klang:
Die horizontale Achse aus den sieben lateinischen Chorsätzen der Totenmesse, die durch die Zeit schreiten – von der Erde bis an die Schwelle der Ewigkeit – und die vertikale Achse aus den zwei Meditationen an Anfang und Ende und den sechs Intermezzi, in denen deutsche Worte aus der Bergpredigt Jesu erklingen – wie Lichtstrahlen, die vom Himmel in den Abgrund fallen.
An der Kreuzung beider Linien entsteht das Herz des Werkes: jene goldene Mitte, in der menschliche und göttliche Erfahrung sich berühren.
Hier wird Musik zum Gleichnis – zur Versöhnung von Himmel und Erde, von Glauben und Zweifel, von göttlichem Licht und menschlicher Dunkelheit.
Die horizontale Achse – Der Weg der Zeit
Die sieben Chorwerke folgen der Liturgie eines klassischen Requiems, doch in neuem Klanggewand.
Der Introitus („Requiem aeternam“)
öffnet sich wie ein Tor aus Klangstein – monumental, ruhig, getragen von in sich ruhendem Klangmauern aus Chor und Klaviersextett - ein feierliches Portal, durch das der Hörer schreitet – hinein in den Raum des Erinnerns.
Das Kyrie, die Anrufung Gottes und Christus um Erbarmen, bittet in schwerelosen Harmonien, chromatischen Linien und leuchtenden Septnonakkorden – eine Klanglichkeit, die zwischen Schmerz und Trost schwebt.
Das Dies Irae bricht wie ein mechanischer Sturm herein – rhythmisch, präzise, fast roboterhaft – ein Sinnbild für den Tag des Zorns im Zeitalter der künstlichen Intelligenz, in dem der Mensch sein eigenes Gericht erschafft.
Im Lacrimosa – dem Herzstück – fließen Tränen aus Klang.
Freudige und schmerzvolle Tränen, jede Dissonanz ein offener Moment zwischen Spannung und Entspannung, jede Terz ein Tropfen Menschlichkeit im atmenden Gewebe melismatischen Klangstroms. In seiner Mitte steht die Liebe zu Jesus – einem Zustand, in dem sich ein schweres Kreuz in Licht verwandelt.
Das Confutatis greift die Motorik des Dies Irae wieder auf: ein rhythmisches Feuer, das die Höllenflammen nicht als Strafe, sondern als Läuterung begreift.
Das Agnus Dei, das Lamm Gottes, antwortet mit zarter Chromatik und tiefgründigem Gleichmut mit einem Gebet, das zwischen den Welten pendelt, auf sein Spiegelbild im Kyrie.
Das Libera me, der große Finalsatz, erhebt die Stimme aus der Tiefe.
Es ruft unermüdlich nach Befreiung aus dem Kreislauf von Schuld, Leid und Kausalität – ein Aufstieg in die höhere Wirklichkeit, die Rückkehr ins Licht.
Die vertikale Achse – Der Weg des Lichts
Zwischen diesen sieben Pfeilern erklingen neun Meditationen – stille Zwischenräume, in denen das Werk atmet.
Sie beginnen und enden mit einer Chormeditationen, getragen von einem fünftaktigen Mantra, elfmal wiederholt – ein musikalisches Gebet der Ewigkeit:
"Sei still, wisse, ich bin Gott.“ (Psalm 46;10)
Dazwischen entfalten sich sechs instrumentale Intermezzi, in denen die Bergpredigt Jesu gesprochen wird – begleitet von Soli der Streicher, die den Weg des Geistes zeichnen:
Die Violine steht für den Himmel – sie bringt das Licht herab.
Die Viola verkörpert das Herz – die Mitte zwischen Geist und Körper.
Das Violoncello steht für die Erde – für die Tiefe, in der sich das Göttliche verkörpert.
Nach dem Lacrimosa wendet sich dieser Weg:
Die Musik steigt wieder auf – Cello, Viola, Violine –, die gleichen Takte rückwärts gespielt, als kehrte der göttliche Geist, der herabgestiegen war, nun verwandelt ins Licht zurück.
So wird aus dem Zyklus eine Himmelsleiter aus Klang, ein Kreis von Inkarnation und Rückkehr, in dem die Materie vergoldet wird – vom göttlichen Licht durchdrungen.
Die goldene Mitte
In der Begegnung beider Achsen – der Zeitlinie der Liturgie und der Lichtsäule der Meditation – leuchtet das Symbol des klingenden Kreuzes.
Hier verschmelzen Wort und Musik, Latein und Deutsch, Himmel und Erde.
Der göttliche Geist steigt herab, um Mensch zu werden; der Mensch erhebt sich, um göttlich zu werden.
So ist das Requiem Auream mehr als ein Requiem –
es ist eine Klangikone,
ein goldener Raum zwischen Ewigkeit und Augenblick,
zwischen Schweigen und Gesang,
zwischen dem, was war, und dem, was bleibt.
- Andreas Schmidt-Hartmann, Oktober 2025